Röntgen in Berchtesgaden

November 2022

Der Mann in Berchtesgadener Tracht hat es eilig. Nur kurz blickt er zur Seite, während er mit weitem Schritt vorbei geht. Vermutlich war er sich nicht dessen bewusst, dass er gerade von einem der bedeutendsten Physiker fotografiert wurde: von Wilhelm Conrad Röntgen.

einheimischer-in-tracht-berchtesgaden-1901-87047-sn-9110.jpg

Das Foto entstand vor dem Laden des Hofbildhauers Stephan Zechmeister, der 1899 das erste Elektrizitätswerk in Berchtesgaden baute und 1903 eine Kopie der Chorgestühl-Wangen in der Stiftskirche anfertigte. Heute ist in dem Haus an der Ecke Weihnachtsschützenplatz-Griesstätterstraße ein Geschäft der Enzianbrennerei Grassl. Der Laden auf dem Bild ist geschlossen. Denn es war Pfingstsonntag 1901.

Zu dieser Zeit war Röntgen (*27. März 1845 in Remscheid, +10. Februar 1923 in München) ein bekannter Physiker und Professor in München. Fünf Jahre zuvor hatte er die X-Strahlen – besser bekannt als Röntgenstrahlen – entdeckt und damit die Medizin ebenso revolutioniert wie auch den Weg für die Erforschung der Radioaktivität geebnet. Seine Forschungen beschäftigten Röntgen auch während seines Aufenthalts in Berchtesgaden. Auf der Rückreise von Salzburg nach München logierte er einige Tage im Hotel Bellevue. Seinem Assistenten, den Schweizer Physiker Ludwig Zehnder, schrieb er am Pfingstsamstag (25. Mai 1901) seine neuesten Überlegungen zu transversalen Wellen. Eher beiläufig schwärmte Röntgen im Brief vom herrlichen Tag und einer „Kahnfahrt“ auf dem Königssee. Wenige Monate nach seinem Aufenthalt in Berchtesgaden erhielt er in Stockholm den ersten Nobelpreis für Physik.

Wenig bekannt ist, dass Röntgen ein begeisterter Amateurfotograf war. 1885 machte er die ersten Aufnahmen und damit lange bevor Fotografieren ein Massenmedium wurde. Seine Leidenschaft half ihm auch dabei, seine Forschungen populär zu machen. Sein berühmtestes Bild zeigt die Handknochen seiner Frau Bertha mit einem Ring – damit war die Radiologie geboren. Bei seinen Urlauben machte er viele Landschaftsaufnahmen. Gerne porträtierte er aber auch charakteristische Einheimische – wie diesen Mann in Berchtesgadener Tracht. Ihn hielt Röntgen sogar auf besondere Weise fest – mit einer Stereo-Fotografie. Die entsprechende Kamera hatte sich Röntgen erst wenige Wochen zuvor gekauft. Stereo-Fotos waren um 1900 sehr populär. Wer sie mit einem Stereoskop ansah, erhielt einen dreidimensionalen Eindruck des Bildes. Da die Aufnahmen jedoch sehr teuer waren, verschwand die Stereo-Fotografie wieder.

Unbekannt ist hingegen, wohin der Berchtesgadener so eilig wollte – zum Gottesdienst in die Franziskaner Kirche? Ins Wirtshaus? Allerdings scheint er einen längeren Aufenthalt geplant zu haben. Wie sonst ist zu erklären, dass er bei strahlendem Sonnenschein einen Regenschirm mitgenommen hat.

Fotos: Wilhelm Conrad Röntgen/Archiv Deutsches Röntgenmuseum

Quellen: Archiv Deutsches Röntgenmuseum; Universitätsbibliothek Zürich, NL Zehnder, Ms_Z_XII_381, Brief Nr. 66

Mathias Irlinger