Touristische Untugenden: das Staffelunwesen

Juni 2022

Während moderne Tourist*innen ihre Unterkunft meist online buchen, können sich viele ältere Berchtesgadner*innen noch gut an die Zeit erinnern, als „die Fremden“ mit Zügen den Talkessel erreichten und vor Ort ein Zimmer suchten. Vor allem an den Bahnhöfen ließ sich deshalb noch rasch ein freies Bett vermieten.

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Die "Fremden" kommen - 1932

Sogenannte Staffler*innen priesen die eigene Herberge als preisgünstig, luxuriös und traumhaft gelegen an, selbst wenn es sich um eine feuchte Kammer handelte. Bedienstete, Söhne oder Töchter wurden zum „staffeln“ geschickt – meist mit Gadln, Leiterwagen oder später sogar Autos, um den Gast gleich einzupacken, selbst wenn dieser noch unentschlossen war. Entsprechende Erzählungen kursieren mit Namensnennungen noch heute – die hier pietätvoll unterbleiben.

Die kulturelle Praxis gab es weltweit an touristischen Orten und es gibt sie vereinzelt auch noch heute. Dem gepflegten deutschen Gast war sie indes seit jeher ein Dorn im Auge. Deshalb versuchten die Tourismusorte gegenzusteuern – auch in Berchtesgaden. Beklagt wurde hier ab den 1920er-Jahren etwa, dass die Gäste mit allen Regeln der Kunst weggefischt und „auf das Land gezogen, über die Entfernung belogen“ würden. Ab 1927 drohten Strafen bis zu 150 Mark oder 14 Tage Haft! Als Kurgäste getarnte Polizisten – also verdeckte Ermittler – kontrollierten am Bahnhof, und der Gastwirteverband forderte gar, die Staffler*innen öffentlich zu denunzieren.

Anfang der 1930er-Jahre regelte eine Verordnung penibel das Verhalten von „Personen, welche […] ankommende Fremde am Bahnhofe dahier erwarten“. So sei nach Anweisung der Polizeiorgane Aufstellung zu nehmen – wie hier im Bild von 1931 fast vorbildlich umgesetzt – und das „Anrufen der Fremden“ zu unterlassen. Insbesondere war das „Anwerben von Fremden und Ansprechen von solchen zum Zwecke der Wohnungsvermittlung auf öffentlichen Wegen, Straßen und Plätzen“ strengstens verboten. Geholfen hat es wenig. Vor allem in der Nebensaison und in Krisenzeiten flammte das Staffelunwesen auf. An einem Tag im Krisenjahr 1931 wurden am Bahnhof 84 Staffler*innen zeitgleich gezählt, die mit allen erdenklichen Mitteln um die ankommenden Gäste kämpften. Erst die Tourismussteigerungen in den Folgejahren drängten das Phänomen zurück, bevor es nach 1945 für einige Zeit wiederkam.  

Quellen:
* Helmut Schöner: Berchtesgadener Fremdenverkehrs-Chronik 1923 – 1945, Berchtesgaden 1974.
* Bernhard von Zech-Kleber: Eine Sommerfrische ersten Ranges. Geschichte des Tourismus in Berchtesgaden, Oberstaufen und Schliersee (1890-1970), München 2020.

Mathias Irlinger