Wer schreibt hier Liebesbriefe an wen?
Juli 2024
Manch einer kann sich noch an die Postfiliale im Bahnhof von Berchtesgaden erinnern. Damals galt es, Briefe und Päckchen ausreichend zu frankieren.
Heute steht in den privat betriebenen Postfilialen der Verkauf von Zigaretten, Zeitschriften und Rubbellosen im Vordergrund. Damals, in den frühen sechziger Jahren, hatte man sich sogar die Mühe gemacht und einen Künstler beauftragt, die Postfiliale mit einem Wandgemälde zu gestalten.
Es zierte die Filiale bis zu ihrer Schließung im Oktober 2003. In fröhlichen Farben mit einer besonderen Spachteltechnik gearbeitet zeigte es eine Stadtansicht. Die verspielten Häuser sind offen, man kann hineinschauen. Ein Briefeschreiber sitzt am Tisch, das Tintenfass neben sich, überlegt er seine nächsten Sätze. Eine Frau hat einen Brief bekommen und liest ihn aufmerksam. In diesem biedermeierlichen Ambiente fehlt nicht der Postbote in einer schmucken blauen Uniform. Mit einem Blumenstrauß in der Hand teilt er die Post aus. Eine Frau beugt sich aus dem Fenster und gibt ihm einen Brief mit. Ein Hund, sonst Feind aller Postboten, springt fröhlich in die Höhe. Der Maler Graupmann hat 1963 dieses Wandgemälde geschaffen. Es spricht die für die damalige Zeit typische Formensprache akademischer Maler. Diese romantisch-verspielte Darstellungsweise ist zeittypisch. Die Betonung der Fläche und die Verleugnung der Bildtiefe geben diesem Bild seinen charakteristischen Ausdruck. Es war ein schönes Zeitdokument. Nach der Post wurde inzwischen ein Fast Food Laden in den Räumlichkeiten installiert. Was ist mit dem Wandgemälde geschehen? Man weiß es nicht. Es bleibt zu hoffen, dass es nur verkleidet wurde und es immer noch auf der Wand vorhanden ist, damit spätere Archäologen es freilegen können. Es wäre zu schade, wenn es zerstört worden wäre. Denn dann könnte man sich nie wieder fragen, ob der Herr auf dem Bild nicht gar einen Liebesbrief an seine schöne Nachbarin schreibt. Liest sie gerade einen solchen, oder ist es gar ein Liebesbrief von einem anderen? Das wird wohl für immer ihr Briefgeheimnis bleiben.
Christoph Merker