Naturgeister in Berchtesgaden
Dezember 2019
Ausgeburten finsteren Aberglaubens, bedrohliche Erziehungshelfer, naive Erklärungsversuche für Naturphänomene, nostalgisch-unterhaltsame Elemente der Kulturgeschichte?
Naturgeister sind und vermögen noch mehr.
Wie Volkssagensammlungen des 19. Jahrhunderts erzählen, wie Volksglaube und –brauch nahelegen, besiedeln diese munteren Dämonen auch das Berchtesgadener Land und seine Nachbarregionen. Auf den Bergen tummeln sich die schönen und lieblichen Wildfrauen, im Bergesinnern die Bergmanndl, in Gewässern die Nixen, in Kasern die Almgeister. In ihrer Ambivalenz sind diese Dämonen hilfreich oder verderblich, sie setzen Tabus und überschreiten mehrfach Grenzen – ihrer Lebensräume und Tätigkeiten, aber auch geografische, politische und geistige Schranken.
Weltweit haben die Menschen den oft bedrohlichen Wirkkräften in der Natur mythische Gestalten zugedacht. Durch Natur, Landschaft, kulturelle und soziale Gegebenheiten sind sie regional und lokal geprägt.
Als Symbolgestalten haben Naturgeister die Künstler inspiriert und sie waren Mittler – zwischen Mensch und Göttlichem und zwischen Mensch und Natur. Wie die Wildfrau vom Untersberg, die den verliebten Bauern zu seiner Frau zurückschickt, die Erdmanndl, die dem brutalen König Watzmann ein Ende bereiten oder die Habergeiß, die Respektlosigkeit ahndet, haben sie ein Auge auf das Verhalten der Menschen untereinander, greifen ein in soziale Beziehungen, regeln, ermahnen, bestrafen, belohnen. Naturgeister bieten sich als Projektionsgestalten an: Sie bilden Seelenzustände des Menschen ab, konkretisieren und objektivieren sie und verlagern sie aus dem Innern nach Außen, wodurch sie leichter handhabbar werden. Nächtliche Ängste mögen sich als bedrohliche Kasermanndl oder die schauerlich rufende Habergoaß verkörpern, Sehnsüchte und Wünsche als mildtätige Zwerge oder hilfreiche Wildfrauen.
Uns Heutigen können die Naturgeister und ihre Geschichten die Heimat vertrauter machen. Ambivalent im Wesen wie die grausame oder gütige Frau Bercht warnen sie vor ausgeprägtem Schwarz-Weiß-Denken. Wie die Tiroler Wildfrauen, die den unmäßig Gämsen schießenden Jäger hart bestrafen, mahnen sie, dass Raubbau an der Natur leicht auf den Menschen zurückwirken kann. Mit ihrem oft grotesken Aussehen und wunderlichen Verhalten fordern sie Toleranz und weisen darauf hin, dass es außer der Welt der Menschen noch andere Welten gibt.
Quellen, u.a.:
- Eichelmann, Toni: Berchtesgadner Sagen. Zeichnungen: Bernhard Wenig. 4. Aufl. Berchtesgaden 1922.
- Freisauff, Rudolf von Neudegg: Salzburger Volkssagen. Zeichnungen: Johann Eibl. Wien u. a. 1880.
- Scherf, Gertrud: Nixen, Wichtlein, Wilde Frauen. Eine Kulturgeschichte der Naturgeister in Bayern, München 2017.
Gertrud Scherf